Anton Bruckner (Kaulbach)

Die Vierte Bruckner

Die Vierte Sinfonie von Anton Bruckner ist mit der Dritten diejenige seiner Sinfonien, zu der das Problem der Fassungen besonders komplex ist – es sind bis zu sieben authentische Fassungen nachgewiesen worden; drei Hauptfassungen liegen ediert vor – die Erstfassung von 1874, die Zweitfassung von 1878/80 (wobei das Finale hier schon in der dritten Version vorliegt) und die Fassung letzter Hand 1888.

Die heutzutage immer häufiger aufgeführte Erstfassung ist – erstaunlich. Im Vergleich zur bekannteren Zweitfassung ist sie viel wagemutiger (z. B. verwendet das Finale über weite Strecken Viertelquintolen!), schroffer in Harmonik und Rhythmus, kontrapunktisch reicher (auch in den beiden ersten Sätzen, die in den späteren Fassungen wenigstens wiedererkennbar sind), aber auch repetitiver, langatmiger; die unbeschreibliche formale Ökonomie der späteren Versionen ist noch nicht so ausgeprägt.

Die Fassung letzter Hand von 1888 war bis vor ein paar Jahren nicht besonders bekannt und stand bis zur Ausgabe von Korstvedt 2004 im Verdacht, eigentlich keine eigenhändige Fassung zu sein, sondern hauptsächlich auf die Schalk-Brüder und Löwe zurückzugehen. Korstvedt weist aber doch recht schlüssig nach, dass die zahlreichen Änderungen nicht unbedingt im Widerspruch zu Bruckners Intentionen gewesen sein müssen.

Ein Vergleich mit der am häufigsten aufgeführten 1878/80er-Fassung ist faszinierend.

Ich glaube, dass man hinsichtlich der Art der Abweichungen scharf unterscheiden muss. Einerseits sind da die Kürzungen bzw. formalen Änderungen im 3. und 4. Satz: Diese sehe ich persönlich (subjektiv!) überhaupt nicht ein und halte sie tatsächlich für zeitbedingte Zugeständnisse an ein die außergewöhnlichen Dimensionen nicht gewohntes Publikum. Analysiert man die längere Fassung, bemerkt man zuallererst deren extreme Ökonomie in der formalen Gestaltung – es gibt keinen Takt, der nicht streng zum architektonischen Skelett gehört; nichts ist formales Beiwerk – weitere (Ab)kürzungen machen das Stück vielleicht etwas kürzer, aber nicht unbedingt nachvollziehbarer und damit – wird es, wenn überhaupt: langweiliger!

Dann: die Instrumentationsänderungen. Diese sind wiederum in tatsächliche klangliche Änderungen und in reine notationstechnische Adaptionen bzw. Präzisierungen zu unterteilen.
Während ich – wieder sehr subjektiv und persönlich – mit den tatsächlichen klanglichen Änderungen sehr wenig anfangen kann (der für Bruckner sonst so charakteristische Registerklang wird stark zugunsten einer viel Wagner-näheren Mischinstrumentation aufgeweicht, die Piccoloflöte und das Becken halte ich für ganz verzichtbar), gibt es doch einen bedenkenswerten Aspekt – die Streicherbehandlung verzichtet auf viele der repetierten Figuren; Tremoli sind nicht immer durchgehend, sondern sehr differenziert notiert (besonders die Schluss-Steigerung des Finales – da gibt es nicht wie in 1878/80 gleich ein diffuses Tremolo, sondern zunächst „nur“ Achtelsextolen – das Pulsieren dieses Ostinatos wird viel deutlicher). Das Streichertremolo zu Beginn der Sinfonie allerdings läßt in der 1888er-Fassung die Kontrabässe liegen – ich finde das auch ein bißchen schade.

Das muß allerdings keinen Widerspruch, keine grundlegende Änderung zur Fassung davor darstellen – denn auch so ist man als Dirigent aufgefordert, jedes einzelne Brucknersche Tremolo intern zu differenzieren, detailliert zu gestalten; so muß am Beginn der Sinfonie selbstverständlich darauf geachtet werden, daß das Tremolo besonders in den Kontrabässen nicht zu schnell und hektisch ausgeführt wird – und der Herzschlag des Sinfonieschlusses muß deutlich hörbar, deshalb trotz Tremolos gut artikuliert sein. So wird sich eine gut geprobte Aufführung der Sinfonie in beiden Fassungen wahrscheinlich sehr ähnlich anhören.

Die überzeugendsten und interessantesten Änderungen sind jedoch die im Gegensatz zur Fassung davor viel häufigeren Anweisungen zu Tempo und Tempomodifikation. Man darf dabei nicht aus den Augen verlieren, dass es diese Fassung war, die im Zuge der Aufführung durch Hans Richter zustandekam, d. h. nur in sie fließen praktische Erfahrungen ein; und wenn Bruckner aus dem „Bewegt, nicht zu schnell“ des ersten Satzes ein „Ruhig bewegt (nur nicht schnell)“ macht, der zweite Satz nicht mehr „Andante quasi Allegretto“, sondern nur noch „Andante“ heißt, und im Vergleich zu davor sehr viel öfter „Ruhig“ in Partitur steht, dann spricht das, genau wie viele eingefügte Fermaten und viele leichte Accelerandi und Ritardandi etc. für Bruckners offenbare Intention, möglichst die Tempi, die zeitliche Disposition flexibel zu halten und alle Hektik und Starrheit zu vermeiden: Ich bin überzeugt, dass es sinnvoll ist, den meisten dieser neuen Anweisungen zu folgen, auch wenn man ansonsten die Fassung von 1878/80 dieser gewaltigen und nach wie vor so ungemein enigmatischen Sinfonie aufführt.

(Juli 2009)

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