Robert Schumann im Jahre 1853: „Ich dachte, […] es würde und müsse […] einmal plötzlich einer erscheinen, der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise auszusprechen berufen wäre […]. Und er ist gekommen, ein junges Blut, an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten. Er heißt Johannes Brahms. […] Wenn er seinen Zauberstab dahin senken wird, wo ihm die Mächte der Massen, im Chor und Orchester, ihre Kräfte leihen, so stehen uns noch wunderbarere Blicke in die Geheimnisse der Geisterwelt bevor. Möchte ihn der höchste Genius dazu stärken, […] da ihm auch ein anderer Genius, der der Bescheidenheit, innewohnt.“
Diese Worte, in Schumanns typischer Euphorie ausgesprochen, ebneten dem gerade 20jährigen Brahms den Weg für seine musikalische Laufbahn; allerdings stellten sie ihn, den – wie Schumann schon erkennt – Bescheidenen, an sich selbst Zweifelnden, auch vor ein gewaltiges Problem: Die Erwartungshaltung nicht nur Schumanns, dass er, Brahms, nun die nächste große Sinfonie, ja, viele meinten sogar: die erste große Sinfonie nach Beethoven schreiben würde: diese Erwartungshaltung war riesig.
Brahms begann im Jahre 1855 mit den ersten Skizzen zu jener Sinfonie; sie wurde dann aber erst nach langen 21 Jahren 1876 fertiggestellt, zu einem Zeitpunkt, an dem freilich die Musikgeschichte durch Liszt und vor allem Wagner (1876 ist auch das Uraufführungsjahr des „Rings“) in völlig andere Bahnen gelenkt wurde, in denen außermusikalische Inspirationen und Programme immer wichtiger geworden waren. Schrieb Liszt programmatische Sinfonische Dichtungen, verwarf Wagner das Konzept absoluter Musik völlig und sah die Zukunft der Musik allein im Gesamtkunstwerk des Musikdramas.
Im folgenden Streit zwischen den „progressiven“ Kräften um Liszt und Wagner und den „konservativen“ zunächst um den einflussreichen Kritiker Eduard Hanslick wurde Brahms, dem die fast sektiererische Gruppenbildung um Liszt und Wagner schon früh nicht ganz geheuer war und der früh seine Unabhängigkeit bewahren wollte, bald zur Galionsfigur der Verfechter der klassizistischen Bewegung – allerdings nicht ganz freiwillig.
Die konservativen Züge bei Brahms sind auf den ersten Blick klar: Er verweigert außermusikalische Programme, beharrt auf klassischen Formen und verwendet eine im Vergleich mit Wagner wenig chromatische Harmonik; auch äußert er sich sehr wenig theoretisch, niemals polemisch; er scheint eher dem mittelalterlichen Ideal des Künstlers als Handwerker zu entsprechen – des Meisters, der nur Fertiges, Vollkommenes zu produzieren habe und ansonsten zu schweigen habe (der Schaffensprozess hat nicht zu interessieren, das Werk für sich selbst zu sprechen: Die allermeisten Skizzen wurden von ihm vernichtet; die gedruckten Erstausgaben sind fast fehlerfrei) – als dem romantischen Bild eines impulsiv Schaffenden. Gerade die erste Sinfonie wurde und wird zuweilen als Bekenntnis zu diesem Konservativismus gedeutet – schreibt Wagner den „Ring“, liefert Brahms eine streng klassisch orientierte, viersätzige Sinfonie ganz ohne Programm, die sehr deutliche Parallelen zu der 5. und zur 9. Sinfonie Beethovens zeigt: zur 5. durch eine ähnlich zyklische Anlage, zur 9. durch ein deutlich am „Freudenthema“ angelehntes Hauptthema des 4. Satzes. Gerade diese Parallele wurde – für beide Komponisten geradezu rufschädigend – als „Korrektur“, als Rücknahme von Beethovens Einsatz von Singstimmen gesehen: denn in diesem Sinfoniefinale kommen eben keine Singstimmen vor.
Und doch war Brahms zeitlebens auch seinen Verfechtern etwas unheimlich – denn er machte es auch ihnen nicht leicht: Seine Werke sind trotz aller Klassizität zu komplex, kontrapunktisch zu reich, rhythmisch zu verschachtelt, im Satz- und Periodenbau und in der Textbehandlung zu innovativ, in ihrem Ausdruck und ihrer Atmosphäre viel zu dunkel, ruppig, melancholisch, manchmal zu aggressiv oder hart, trocken, um wirklich bequem zu sein. Aus diesen Charakteristika erklärt sich jedoch auch die Verehrung, die ihm gerade von den progressivsten Komponisten der nächsten Generation wie Mahler und Schönberg entgegengebracht wurde – einer von Schönbergs berühmtesten Aufsätzen heißt: „Brahms, der Fortschrittliche“. Schönberg schreibt hier unter anderem: „Der Sinn für Logik und Ökonomie und die Erfindungskraft, die zusammen so natürlich fließende Melodien bilden, verdienen die Bewunderung jedes Musikliebhabers, der von der Musik mehr als Süße und Schönheit erwartet.“
Noch etwas: Brahms ist im 19. Jahrhundert der erste Komponist, der seinen Blick historisch nicht bei Mozart oder bestenfalls Bach beginnen lässt sondern viel weiter zurückblickt; er ist der erste, der sich eingehend mit Musikgeschichte beschäftigt – große frühe Gestalten der Musikwissenschaft wie Chrysander und Nottebohm waren mit ihm befreundet, er agierte u. a. als Herausgeber der Cembalowerke des französischen Barockkomponisten François Couperin. Brahms’ Beharren auf höchst kunstvollem Kontrapunkt, verschlungener Rhythmik, seine Verwendung und Neuinterpretation barocker Formen (z.B. der Passacaglia in der 4. Sinfonie) – all das hat seine Wurzeln in dieser nicht nur historisierenden, sondern fast schon postmodernen Zugangsweise, die nichts mit einer Sehnsucht nach vergangenen, vermeintlich besseren Zeiten zu tun hat. Brahms bleibt immer ein moderner, aufgeklärter Zeitgenosse des 19. Jahrhunderts.
So passt Brahms denn, wie wohl alle großen Künstler, in keine Schublade; und gerade das ist es, was seine Musik heute – sofern man mehr als Süße und Schönheit von ihr erwartet (und doch kenne ich eigentlich keine süßere und schönere Musik) – im 19. Jahrhundert so einzig dastehen lässt und so ideologiefrei genießbar und erträglich macht: denn er verschreibt sich keiner Schule und vor allem keinem Nationalismus. Dazu ein Zitat des großen englischen Komponisten Edward Elgar: „The classical composer par excellence of the present day, who free from any provincialism of expression or national dialect writes for the whole world and for all time – a giant, lofty and unapproachable – Johannes Brahms.“
Das Verblüffende an der 1. Sinfonie ist aber die Tatsache, dass man ihr ihre 21jährige Genese weder ansieht noch anhört – wenige Sinfonien wirken dermaßen wie aus einem Guss wie diese. Im 1. Satz finden wir in einer langsamen Einleitung bereits sämtliche Elemente vor, die den gesamten Satz prägen werden – vor allem motivisch eine chromatisch steigende Linie sowie pendelnde Sexten und Terzen, aber auch Orgelpunkte und rhythmische Unerbittlichkeit. Im folgenden, zum Bersten gespannten, Allegro-Sonatensatz tritt das aus der chromatisch steigenden Linie entwickelte Hauptthema sehr bald schon im doppelten Kontrapunkt (d.h. Bass- und Diskantstimmen werden vertauscht) und in der Umkehrung auf. Das Seitenthema ist nur durch eine ruhigere Atmosphäre gekennzeichnet, melodisch beruht auch dieses auf denselben beiden Elementen und rückt dadurch diesen Sonatensatz in die Nähe des eher monothematischen Satzes haydnscher Prägung. Die selten ausgeführte Wiederholung der Exposition sollte unbedingt gespielt werden, denn sie ist für den formalen Verlauf des ganzen Satzes unerlässlich: Endet die Exposition beim ersten Mal mit einem Halbtonschritt abwärts Des-C (der sich motivisch aus der Umkehrung der aufsteigenden chromatischen Linie des Sinfoniebeginns erklären lässt), wird dies beim zweiten Mal zu einem Ganztonschritt Des-Ces(=H); zu Beginn der Coda aber wird genau diese Erweiterung selbst gewaltig erweitert: Wir hören nun C-H-B-A-G-F-E. Dies ist aber weder verständlich noch sinnvoll, wenn die Wiederholung der Exposition nicht stattfindet. Nach fast durchgehender Extremspannung beruhigt sich nun alles. Der Satz endet langsam und versöhnlich.
Der 2. Satz, ein ruhiger Hymnus in E-Dur, eine sehr frei gehandhabte dreiteilige Form, bringt unter anderem sehr diskret die aufsteigende chromatische Linie des ersten Satzes, aber ins Helle gewandelt, wie ein gelöster Schluss. Die Oboen-, Klarinetten-, Horn- und Violinsoli heben das Stück in eine gelöst heitere, unbeschreiblich zarte und innige Welt; wieder einmal gelangt man beim Schreiben über Musik an die Grenzen der Sprache. Wahrscheinlich sollte man gar nicht darüber schreiben. –
Der 3. Satz ist eine graziöse As-Dur-Scherzo-Miniatur von trügerischer Einfachheit – die eröffnende Klarinettenmelodie ist viel komplexer als sie sich anhört – besteht sie z.B. aus zwei Fünftaktgruppen statt der gewohnten Viertakter. Nach einem Trio in H-Dur folgt eine extrem verknappte Reprise; und dann eine wunderbare, erst nach Vollendung der Sinfonie auf Anregung Clara Schumanns erweiterte Coda, wo, wieder sehr diskret und kaum vernehmbar, in der 1. Violine nach einem transponierten „B-A-C-H“-Motiv zum letzten Mal in der Sinfonie deutlich die aufsteigende Chromatik des ersten Satzes auftaucht.
Der 4. Satz bringt, wie der 1., in einer langsamen Einleitung sämtliches thematisches Material des weiteren Verlaufes; doch so versteckt, dass man es kaum hört. So ist gleich der erste Takt in den Violinen die Grundlage für das berühmte Hauptthema. War die Introduktion des ersten Satzes rhythmisch streng und unerbittlich ist sie hier viel freier, wie ein Rezitativ, doch ebenso düster. Nach einer ersten Phase erklingt jedoch – noch nicht das Hauptthema! – im Horn ein strahlendes Thema in C-Dur (von Brahms mit seinen Ferienaufenthalten in den Schweizer Alpen in Verbindung gebracht) sowie in den Posaunen einige Choraltakte. Dann folgt tatsächlich ein Sonatensatz; nur – es fehlt die „Durchführung“; dafür wird das Hauptthema, das bewusst an Beethovens „Ode an die Freude“ angelehnt ist, wie dort variiert. Nach kunstvollen kontrapunktischen Verwicklungen folgt sofort die Reprise, die weiter variiert und – weiter kontrapunktisch verwickelt; riesige Steigerungen und Zusammenbrüche erfolgen. In der Coda die größte Steigerung des ganzen Werkes; in relativ kühnen Harmonien beschleunigt sich das Tempo, so dass an der gespanntesten Stelle der Choral aus der Introduktion in strahlender Apotheose erklingt – wir werden hier aber nicht, wie leider an dieser Stelle fast überall üblich, plötzlich wieder viel langsamer und dann wieder schneller (was der Stelle einen eigentümlich hohl-pathetischen Anstrich gibt), sondern nehmen diese Stelle ganz im Zusammenhang als Teil einer ungebrochenen Entwicklung bis hin zum letzten, triumphalen Takt.
Nicolas Radulescu, 7. 6. 2010, überarbeitet 10. 6. 2021