Ein Abend in a-Moll

Ob eine Tonart eigenen Charakter habe?

„Man hat dafür und dagegen gesprochen; das Rechte liegt wie immer mitten innen. Man kann ebenso wenig sagen, daß diese oder jene Empfindung […] gerade mit dieser oder jener Tonart in die Musik übersetzt werden müsse […], als Zelter’n beistimmen, wenn er meint, man könne in jeder Tonart jedes ausdrücken. […] Der Proceß, welcher den Tondichter diese oder jene Grundtonart zur Aussprache seiner Empfindungen wählen läßt, ist unerklärbar, wie der schaffende Genius selbst, der mit dem Gedanken zugleich die Form, das Gefäß gibt, das jenen sicher einschließt.“ Robert Schumann

Und doch – über die Grundtonart des heutigen Konzertes schreiben Zeitgenossen recht deutlich:

„So hat diese Tonart einen […] Charakter, der überall nur Hingebung verräth, in der Heiterkeit sich anschmiegt und in dem Schmerze nicht widerstrebt, noch auch trostlos verzagt. Das Gefühl der Buße kann kein mehr entsprechendes Organ finden […]“ Ferdinand Gotthelf Hand

„Sehr klangvoll, weich, traurig, sehr vornehm“ Hector Berlioz

Auch wenn Robert Schumann sich offenbar der Problematik bewußt ist: Das Cellokonzert in a-moll op. 129, komponiert 1850, entspricht diesen Beschreibungen. Eine ruhige, auch schwärmerische Atmosphäre läßt Schumanns eigene Bezeichnung des Werkes als „durchaus heiteres Stück“ umso seltsamer erscheinen, als diese Stimmung immer wieder erheblich abgedunkelt wird – so, daß besonders der Äußerung über das „Gefühl der Buße“ voll entsprochen wird. „Heiter“ im Sinne von „schlicht“ mag diese Musik sein, aber sicher nicht „lustig“ oder „fröhlich“.
Für Schumanns originale Bezeichnung als „Concertstück“ spricht die Tatsache, daß er die drei Sätze ineinander übergehen läßt: Der erste Satz (Nicht zu schnell) hat anstelle der Coda eine modulierende Überleitung zum zweiten Satz (Langsam) in F-Dur. Dieser Satz wird zwar zu Ende gebracht, doch setzt sofort eine freie, geradezu verzweifelte Überleitung zum dritten Satz (Sehr lebhaft) ein, der bei allem Feuer nie gelöst wirkt (auch wenn er im „brillanten, vornehmen, freudigen“ (Berlioz) A-Dur schließt), sondern wie viele Werke Schumanns fast obsessiv einzelne Motive wiederholt.

Am 10. Februar 1854 setzten bei Schumann Gehörshalluzinationen ein; am 15. erhielt er die Korrekturfahnen zum Cellokonzert; über die Nacht vom 17. zum 18. schreibt Clara Schumann: „Die Ärzte brachten ihn zu Bett, und einige Stunden ließ er es sich auch gefallen, dann stand er aber wieder auf und machte Korrekturen von seinem Violoncellokonzert, er meinte dadurch etwas erleichtert zu werden von dem ewigen Klange der Stimmen“. Am 21. Februar wurden die korrigierten Stimmen an den Verlag zurückgeschickt; am 27. stürzte sich Robert Schumann in den Rhein. Er starb 1856 in der Heil- und Pflegeanstalt Endenich bei Bonn.

Zu seiner halb-imaginären Bruderschaft der Davidsbündler rechnete Schumann auch seinen Freund Felix Mendelssohn Bartholdy. Dessen 3. Sinfonie, die „Schottische“ op. 56, Königin Victoria gewidmet, steht auch in a-moll. Auch ihr zweiter Satz ist in F-Dur, und auch ihr letzter Satz endet in A-Dur. Auch Mendelssohn versucht, die einzelnen Sätze miteinander zu verbinden, doch dies geschieht hier nicht strukturell, sondern hauptsächlich durch eine Anweisung zu Beginn der Partitur: „Die einzelnen Sätze dieser Symphonie müssen gleich auf einander folgen, und nicht durch die sonst gewöhnlichen längeren Unterbrechungen von einander getrennt werden.“ Um diesen Wunsch richtig zu interpretieren, muß man, glaube ich, die Aufführungspraxis der Zeit bedenken: Es war üblich, nach jedem Sinfoniesatz zu applaudieren und ihn gegebenenfalls sogar zu wiederholen. An eine Gesamtwirkung ist so nicht zu denken – und gerade dies ist bei der Schottischen ein grundlegendes Erfordernis des Stückes. – Es ist erstaunlich, daß diese Sinfonie, an der Mendelssohn zwischen 1829 und 1842(!) schrieb, einen so hohen Grad an motivisch-thematischem Zusammenhang aufweist, wie auch an einheitlicher, ausgefeilter Instrumentation. Das Ganze ist wichtiger und von überzeugenderer Wirkung als jeder der Teile. Jedenfalls ermöglichen wir bei unserer heutigen Aufführung sowohl dem Orchester als auch dem Publikum ein kurzes Innehalten zwischen den Sätzen; daß die Konzentration durch Applaus gestört würde, ist heute unwahrscheinlich.

Der erste Satz beginnt mit einer langsamen Einleitung (Andante con moto), das folgende Allegro un poco agitato ist in Sonatensatzform gehalten (wobei allerdings die Tempi stark variieren; das Hauptthema ist aus der Einleitung abgeleitet), die Coda ist stark erweitert und mündet nach einer programmatisch wirkenden, fast Wagners „Fliegenden Holländer“ vorwegnehmenden Sturmszene in eine verkürzte Wiederholung der Einleitung.
Der zweite Satz (Vivace non troppo) ist ein hochvirtuoses Scherzo – mit doppeltem Boden: Im 2/4- statt im 3/4-Takt gehalten, folgt der Satz wieder der Sonatensatzform, die hier aber durch ständiges Variieren verunklart wird. Das Hauptthema ist einerseits aus der Einleitung des ersten Satzes abgeleitet, andererseits aber deutlich pentatonisch, sodaß es besonders „keltisch“ wirkt.
Auch der dritte Satz (Adagio) kann als Sonatensatz gedeutet werden, allerdings „fehlt“, ähnlich wie in Schuberts 6. und 7. Sinfonie, wie in Brahms’ 1., die Durchführung. Stattdessen wird wie bei Brahms in der „Reprise“ das Material so stark variiert, daß ein eigener Durchführungsteil redundant wäre. Daß dieser Satz – einfach wunderschön ist: Kann man das in einem Programmtext unreflektiert sagen?
Der vierte Satz (Allegro vivacissimo) ist wieder(!) in Sonatensatzform gehalten, diesmal klarer. – Doch erwartet uns hier die größte Überraschung der ganzen Sinfonie: Statt des angesteuerten martialischen Höhepunktes am Ende der Reprise läßt Mendelssohn die gesamte Faktur in sich zusammenfallen, übrig bleibt ein hypnotisches Solo von Fagott und Klarinette. Dann folgt ein ausgiebiger Schlußteil (Allegro maestoso assai) in A-Dur, der auf Material der Einleitung des ersten Satzes zurückgreift, dies jedoch in einem unglaublichen Crescendo tatsächlich zum triumphalen Höhepunkt bringt.

Und was ist an dieser Sinfonie „Schottisch“? Sie ist, scheint mir, wie kaum ein anderes Werk bei aller „absoluten“ Gestaltung von Bildern geprägt. Ich möchte meine Assoziationen vorenthalten – auch Mendelssohn schreibt seine nicht in die Partitur. Stellvertretend aber doch eine Briefstelle von 1829:

„In der tiefen Dämmerung gingen wir heut‘ nach dem Palaste [Holyrood House in Edinburgh], wo Königin Maria [Stuart] gelebt und geliebt hat; es ist da ein kleines Zimmer zu sehen, mit einer Wendeltreppe an der Thür; da stiegen sie hinauf und fanden den Rizzio [den Musiklehrer und Privatsekretär der Königin] im kleinen Zimmer, zogen ihn heraus, und drei Stuben davon ist eine finstere Ecke, wo sie ihn ermordet haben. Der Kapelle daneben fehlt das Dach, Gras und Epheu wachsen viel darin, und am zerbrochenen Altar wurde Maria zur Königin von Schottland gekrönt. Es ist da alles zerbrochen, morsch und der heitere Himmel scheint hinein. Ich glaube, ich habe da heut‘ den Anfang meiner Schottischen Symphonie gefunden.“

Nicolas Radulescu
Mai 2008

Kommentare sind geschlossen.