Eine Reise in die Nacht (Haydn, Wagner, Elgar, Tschaikowsky)

Abwärts wend ich mich zu der heiligen, unaussprechlichen, geheimnisvollen Nacht. Fernab liegt die Welt – in eine tiefe Gruft versenkt – wüst und einsam ist ihre Stelle. (Novalis, „Hymnen an die Nacht“)

Zu Beginn eine Einstimmung auf das Haydn-Jahr 2009. Die Ouvertüre zur Oper L’ Isola disabitata („die unbewohnte Insel“), komponiert 1779, ist ein erstaunlich wildes Stück (wenn auch mit einem typisch Haydnschen Menuett-Mittelteil).

O sink hernieder, Nacht der Liebe, gib Vergessen, daß ich lebe; nimm mich auf in deinen Schoß, löse von der Welt mich los! (Wagner, „Tristan und Isolde“)

Dann: Wagners Wesendonck-Lieder (1857/58): komponiert auf Gedichte seiner (wohl platonischen) Geliebten, Mathilde Wesendonck, tragen zwei der fünf Lieder den Untertitel „Studie zu Tristan und Isolde“. Das dritte Lied, „Im Treibhaus“, wurde später im Vorspiel zum 3. Akt der Oper verwendet, und das letzte, „Träume“, im riesigen Liebesduett des 2. Aktes. Gemeinsam ist beiden Werken viel: Sehnsucht nach der Nacht, Vergessen, Stillstehen der Zeit, Auflösung, der Liebestod-Topos. Die ersten vier Lieder wurden von Felix Mottl, einem bedeutenden Wagner-Dirigenten, der 1911 während seiner 100. Tristan-Vorstellung verstarb, instrumentiert; das letzte von Wagner selbst.

Ernst ist der Herbst. / Und wenn die Blätter fallen, / sinkt auch das Herz / zu trübem Weh herab. / Still ist die Flur, / und nach dem Süden wallen / die Sänger, stumm, wie nach dem Grab. (Klaus Groth, „Im Herbst“, vertont von Johannes Brahms, op. 104)

Elgars herbstliches Cellokonzert entstand spät, 1919, auch unter dem Eindruck der Verwüstung des ersten Weltkriegs. Verglichen mit früheren Werken des Komponisten ist der Stil des Konzertes herber, schlichter, verinnerlichter. Außergewöhnlich (obwohl: tat nicht Beethoven im 5. Klavierkonzert dasselbe?) der Beginn mit einer Cellokadenz; es folgt ein erster Satz in schlichtester Dreiteiligkeit: sechsmal eine grüblerisch sich drehende, sechstaktige 9/8-Phrase, dann ein 12/8-Mittelteil, und dann noch viermal die 9/8-Phrase – fast verstörende Unerbittlichkeit. Die Sätze durch eine Kadenz verbunden; nach Anlaufschwierigkeiten leichtfüßig, sehr kunstvoll, der zweite Satz: man findet Beschreibungen wie „Vogelflug“; ich sehe eher Nebel, Irrlichter, Gespenster, aber vielleicht ist das zu subjektiv. Der berühmte dritte, langsame Satz ein Schumann-Echo: dreimal, jeweils transponiert, eine weitgeschwungene Phrase – umrahmt von ein paar einleitenden und abschließenden Takten: fast schmerzhafte Schlichtheit. Der vierte Satz überrascht: zunächst, wieder nach Anlaufschwierigkeiten und Kadenz, ein greller Marsch (rollen hier die Panzer? jedenfalls ist daran nichts fröhliches), löst sich die Musik gegen Ende in einer langen Coda gleichsam auf. Die Bewegung wird immer langsamer und ruhiger, bis sie in die Melodie des dritten Satzes mündet. Danach: eine Wiederkehr des Beginnes des Konzerts; zum Schluß aber triumphiert der martialische Marsch.

Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh; wie dies stirbt, so stirbt er auch; und haben alle einerlei Odem; und der Mensch hat nichts mehr denn das Vieh: denn es ist alles eitel. Es fährt alles an einem Ort; es ist alles von Staub gemacht, und wird wieder zu Staub. (Prediger Salomo 3, deutsch von Martin Luther, vertont von Johannes Brahms, op. 120)

Der Untertitel von Tschaikowskys 6. Sinfonie op. 74, „Pathétique“ teilt die Problematik mit der anderen berühmten „Pathétique“, der Klaviersonate von Beethoven. Nicht der eng gefaßte Begriff „pathetisch“, „mitleiderregend“ ist jeweils gemeint, sondern eher einer, der auch „dramatisch“, „emotionsgeladen“ usw. beinhaltet. Dramatisch ist an der Sinfonie der Sinn für satzübergreifende Dramaturgie; „pathetisch“ oder „tragisch“ die biographischen Zusammenhänge (der Komponist verstarb sehr bald nach der Uraufführung unter nicht restlos geklärten Umständen – vielleicht war es doch Selbstmord?) und die Richtung nicht nur der Dramaturgie, sondern auch fast aller Themen und Motive des gesamten Werks: abwärts. Aber die Anlage der Sinfonie sehr symmetrisch: gewaltige Aufschreie und Verzweiflung in den Ecksätzen, und beide Mittelsätze (es ist nicht festzustellen, welcher davon den „langsamen“ Satz vertritt und welcher das „Scherzo“ – denn der wirkliche „langsame“ Satz ist der letzte; der zweite Satz teilt den dreiteiligen formalen Aufbau mit einem „Scherzo“, die Scherzo-typische Triolenraserei findet im dritten statt) sind nur oberflächlich gesehen „positiver“.
Im ersten Satz, einem groß ausgebauten Sonatensatz, ist das zweite, berühmte, Thema kitschgefährdet, wir versuchen, es so absichtslos und schlicht wie möglich zu bringen. Dramatisch beginnt mit einem plötzlichen Tuttischlag der Durchführungsteil und mündet in ein Zitat der orthodoxen Totenliturgie; in der darin eingearbeiteten Reprise bäumt sich zuletzt das ganze Orchester in einem der gewaltigsten Höhepunkte der Musikgeschichte auf, nur, um dann ganz in sich zusammenzubrechen. Der Satz verklingt jedoch mit einer sanften, melancholischen, aber nicht verzweifelten Coda. Der zweite Satz hat viel mit Tschaikowskys berühmten Walzern zu tun (Nußknacker, Schwanensee), aber mit einem Unterschied: er ist im 5/4-Takt geschrieben; statt jeweils zwei ¾-Takten „fehlt“ dem ersten davon ein Viertel – der Effekt hat bei aller Eleganz etwas gespenstisches; der Rhythmus wird „hinkend“. Der dritte Satz hingegen ist so lang, so bombastisch, so virtuos, so laut und so gut gelaunt, daß es, zumindest für uns Menschen des 21. Jahrhunderts, nicht ganz mit rechten Dingen zuzugehen scheint. Ich empfinde dieses Stück als einen hysterischen Marsch zum Schafott; aber vielleicht ist auch dies wieder zu subjektiv. Im vierten Satz bricht schließlich alles zusammen, die Sinfonie endet in völliger Verzweiflung und untröstlicher Trauer.

Nicolas Radulescu
Oktober 2008

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