Händel, Grieg, Brahms, Sibelius

Am Abend des 17. 7. 1717 „schiffte sich der König [Georg I.] zu Whitehall [auf der Themse] in einem großen offenen Kahn ein. […] Und fuhr stromaufwärts bis Chelsea. Viele andere Schiffe mit wichtigen Persönlichkeiten waren anwesend und so viele weitere Boote, daß der ganze Fluß gleichsam bedeckt war; ein Schiff wurde von der Stadt für die Musik bereitgestellt und enthielt 50 Instrumente aller Art, die während des gesamten Weges von Lambeth […] die erlesensten Symphonien, eigens für diesen Anlaß von Mr Hendel komponiert, spielten, und die Seiner Majestät so gefielen, daß er es dreimal spielen ließ, auf dem Hin- und Rückweg. Um Elf ging Seine Majestät in Chelsea an Land, wo ein Essen vorbereitet war, und dort gab es noch eine erlesene Musik; dies dauerte bis 2; danach kehrte Seine Majestät wieder auf sein Schiff zurück und fuhr den selben Weg zurück, die Musik spielte bis er landete.“ (Daily Courant, 19. 7. 1717). Ein weiterer zeitgenössischer Bericht spricht von „Instrumenten aller Arten, Trompeten, Hörner, Oboen, Fagotte, Deutsche Flöten, Französische Flöten [d.h. Blockflöten und Querflöten], Violinen und Bässe. […] Seiner Majestät gefiel die Musik so sehr, daß er sie insgesamt dreimal spielen ließ, und jede dieser Darbietungen dauerte eine Stunde – nämlich zweimal vor und einmal nach dem Essen.“ (Brief des preußischen Botschafters Friedrich Bonet).

Eine Legende berichtet, daß Händel, der Jahre zuvor Hofkomponist des damaligen Hannoveraner Kurfürsten Georg Ludwig gewesen war, sich mit diesem fürchterlich zerstritten hatte, weil er von einer Beurlaubung nicht mehr heimgekehrt war und statt dessen seine Zelte in England aufgeschlagen hatte. Das Schicksal wollte es aber, daß derselbe Kurfürst Georg Ludwig im Jahr 1714 zum englischen König Georg I. gekrönt wurde – und daß Händel mit der oben beschriebenen „Wassermusik“ die große Versöhnung gelang. Dies ist jedoch nicht zu beweisen.

Trotz oder vielleicht gerade wegen des außerordentlichen Erfolges dieser „Wassermusik“ ist die Überlieferung der Partitur erstaunlich schlecht: Möglicherweise nahm Händel zu Lebzeiten von einer Veröffentlichung Abstand weil dieses Werk explizit für den Hof geschrieben wurde. Kein komplettes Autograph existiert und die früheste gedruckte Ausgabe des vollständigen Werkes stammt aus dem Jahre 1788; seitdem steht man vor dem Problem, daß Händels originale Reihenfolge der Sätze nicht klar ersichtlich ist. So unterteilt diese erste Ausgabe die „Wassermusik“ in zwei Suiten, von denen eine „in F“ ist, und die zweite die Sätze in D und G beinhaltet. Die historisch-kritische Hallische Händel-Ausgabe unterteilt, wie die meisten Aufführungen heutzutage, die „Wassermusik“ in drei Suiten: eine in F-Dur, eine in D-Dur und eine in G-Dur.  Die viel intimere Orchesterbesetzung der G-Dur-Suite läßt einigen Forschern zufolge auf ihre Aufführung nicht auf der Themse, sondern beim Festmahl in Chelsea schließen. Dies ist allerdings unwahrscheinlich, da sonst, auch bei langsamen Tempi und der Ausführung aller möglichen Wiederholungen, keinesfalls die von Bonet erwähnte Aufführungsdauer zustandekäme. Bonet erwähnt die Flöten explizit als musikalische „Schiffsbesatzung“: Beide Flöteninstrumente finden sich nur in der sogenannten G-Dur Suite. Die Anordnung wird jedoch noch weiter kompliziert: Zu Händels Zeit war es zwar allgemein üblich, Suiten nach Tonarten anzuordnen – dieses Argument würde in der Tat für die 3-Suiten-Theorie sprechen, wäre da nicht das Problem, daß einzelne Sätze ohnehin ganz aus diesen Tonartschemata herausbrechen: die F-Dur-Suite beinhaltet immerhin drei Sätze (alle langsam) in d-moll, und die G-Dur-Suite überhaupt nur drei Sätze in der Grundtonart; die anderen sind in g-moll, einer nach der damaligen Musiktheorie recht weit entfernten Tonart. Zwei der Suiten (F-Dur und G-Dur) hören in „falschen“ Tonarten auf (d-moll und g-moll), die dritte (D-Dur) ist für ihren großen instrumentalen Aufwand erstaunlich kurz. So kommt, zumindest für mich, die Aufführung in drei Suiten nicht in Frage; die Unterteilung in zwei Teile ist wahrscheinlicher.  Um diese (F/d und D/G/g) beizubehalten, andererseits aber die Einheit des Werkes stärker herauszuarbeiten, haben wir in unserer Fassung durch die Übernahme eines d-moll-Satzes aus der „F-Dur-Suite“ in die „D-Dur-Suite“ einen Brückenschlag versucht.

Eine weitere Frage ist die der Orchestergröße. Waren während der ersten 70 Jahre des 20. Jahrhunderts monumentale Orchesterbesetzungen bei Händels Werken die Regel, hat sich seit der „Alte-Musik“-Bewegung ab den 70er-Jahren zunehmend ein generell richtiger und wichtiger Trend zur kammermusikalischen Besetzung durchgesetzt. Dem widersprechen hier allerdings sowohl die überlieferte Orchesterbesetzung (immerhin an die 50 Spieler) als auch der Anlaß einer Freiluftaufführung. Wir haben uns bewußt für eine sehr große Besetzung entschieden, die aber an entscheidenden Stellen Händels eigener Praxis der Unterscheidung in tutti, kleineres Orchester und Soli folgt, um möglichst die intimeren Sätze nicht zu überfrachten. Wir wollen bei unserem Frühsommerausflug auf der Themse nicht Schiffbruch durch Überladung erleiden.

Die „Wassermusik“ besteht aus „Symphonien“, wie es der Zeitungsartikel nennt, und aus einzelnen Tanzsätzen. Die „Symphonien“ sind entweder, wie zu Beginn, Ouvertüren im französischen Stil (ein langsamer Teil mit punktierten Rhythmen – ein schneller, kontrapunktischer Teil – noch ein langsamer Teil), oder, wie jene gleich danach und die zu Beginn der „D-Dur-Suite“, italienische Sinfonie (d.h. ein schneller Satz zu Beginn, dann ein langsamerer, zuletzt ein schneller Satz oder ein Menuett zum Schluß. Aus dieser Form entwickelte sich übrigens die klassische Symphonie). Die Tanzsätze sind mehr oder weniger die in der barocken Suite üblichen, zumeist treten sie in Paaren auf, wobei der jeweils erste nach dem zweiten wiederholt wird. Eine Eigenheit der „Wassermusik“ sind allerdings die beiden „Hornpipes“, eine besondere Hommage an England: ein damals schon sehr traditioneller, rustikaler englischer Tanz im lebhaften 3/2-Takt.

Den für die barocke Orchesterbehandlung typischen Gegensatz von gleichwertigen Bläser- und Streicherstimmen unterstreichen wir durch unsere ungewohnte Orchesteraufstellung mit Streichern links und Bläsern rechts.

Durch die Einbeziehung so vieler für bestimmte Nationalstile typische Elemente (Italien, Frankreich, Deutschland, England) gelingt es Händel wie wenigen anderen, einen gleichsam internationalen Stil zu schreiben, der noch dazu durch seine Faßlichkeit (aber niemals Primitivität) und seine unerhörte Vitalität, Kraft und Direktheit besticht und der uns deshalb, auch in einer völlig anderen Aufführungssituation, nach über 250 Jahren, sofort anspricht und mitreißen kann. Kein Wunder, daß Händels wohl größter Verehrer kein anderer als Ludwig van Beethoven war.

I. Suite in F/d

Ouverture
Adagio e staccato
[Allegro] – Andante – [Allegro] da capo
[Menuet] Air
Minuet
Bourrée
Hornpipe

II. Suite in D/d/G/g

[Sinfonia] – [Andante] – Minuet / Menuet / Minuet da capo
[Sarabande] Rigaudon / [Rigaudon II] / Rigaudon da capo
[Menuet] [Gigue] / [Gigue II] / [Gigue da capo] Alla Hornpipe
Lentement [Loure]

Die zweite Hälfte des heutigen Abends bringt – wie nach einer Zeitreise – eine Auswahl an Ouvertüren und Suiten des 19. Jahrhunderts. Brahms’ Tragische Ouvertüre op. 81 wurde im Jahr 1880 komponiert; als „trauriges“ Gegenstück zur für den Komponisten ungewöhnlich heiteren Akademischen Festouvertüre op. 80. Brahms darüber: „Bei der Gelegenheit konnte ich meinem melancholischen Gemüt die Genugtuung nicht versagen – auch eine Trauerspiel-Ouvertüre zu schreiben!“  Brahms selbst nennt das Stück in einem anderen Brief „eine dramatische oder tragische oder Trauerspiel-Ouvertüre.“ Im Gegensatz zu den berühmten Ouvertüren Mozarts, Beethovens, Webers und teilweise auch Mendelssohns ist Brahms’ Ouvertüre dennoch ein hervorragendes Beispiel einer für den Konzertsaal geschriebenen Ouvertüre – d.h. sie ist, ähnlich wie Händels Ouvertüren aus der Wassermusik, nicht für Oper oder Sprechtheater gedacht, sondern für eine abstrakte Aufführung. Der von Brahms endgültig gewählte Titel verweist gerade auf diese Ambivalenz Trauerspiel- / Konzertouvertüre, denn er bezieht sich nicht nur auf die auf die Tragödie als Dramenform, sondern vor allem, denke ich, auf die dramatische, düstere, aufbegehrende, stürmische, aber auch mysteriöse, melancholische, sehnsuchtsvolle, sehr feierliche und dann wieder geradezu rauhe und unerbittliche – d.h. kathartische und damit im übertragenen Sinn tragische – Atmosphäre der Musik. Ganz bestimmt ist die Ouvertüre nicht die Ouvertüre zu einem bestimmten Theaterstück, sondern viel eher eine Ouvertüre auf die Idee des Tragischen an sich.

Die Valse Triste aus Jean Sibelius’ op. 44 (1907) ist, ebenso wie Edvard Griegs Peer Gynt-Suite tatsächlich zunächst als Bühnenmusik, d.h. zur musikalischen Begleitung eines Theaterstückes geschrieben worden. Beide Werke wurden aber erst im Konzertsaal weltberühmt. Sibelius’ Walzer – ein tatsächlich tragisches Stück, das im entsprechenden Drama den Tod der Mutter des Protagonisten begleitet – ist viel mehr als ein Gesellschaftstanz und hat durch seine Stilisierung viel mit den barocken Suitensätzen Händels zu tun.
Grieg’s Peer Gynt-Suite Nr. 1 (1867, als Suite zusammengstellt 1888) ist eines der besten Beispiele für den Begriff der Suite im 19. Jahrhundert: Es handelt sich um eine Auswahl von Musiknummern aus der Bühnenmusik für Ibsens gleichnamiges Versdrama. Wir finden zwar keine Ouvertüre vor, doch deren Funktion wird von der eröffnenden Morgenstimmung glänzend erfüllt – einem der bekanntesten Orchesterstücke überhaupt. Der zweite Satz, Åses Tod, ist ein eindrucksvolles Streicherlamento, der dritte, Anitras Tanz, der einzige stilisierte Tanzsatz der Suite (eine Mazurka), und der vierte Satz, fast ebenso berühmt wie der erste, In der Halle des Bergkönigs, zeichnet in einer gewaltigen Steigerung den furiosen Zorn der von Peer verschmähten Trollmädchen nach.

Nicolas Radulescu, Mai 2007

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